Seit siebzehn Jahren gibt es in der Gemeinde Dreschvitz im Westen Rügens die Freie Schule Rügen. Ins Leben gerufen haben sie Mütter mit reformpädagogischen Ambitionen.

[Von Heike Balzer und Anja Rath]

Eine andere Schule

Es war die Vision einer besseren Schule, die im Frühjahr 2002 einige junge Mütter auf der Insel Rügen auf den Gedanken brachte, eine eigene Schule zu gründen: „Leistungsdruck, Angst vor Schulversagen und schlechten Noten, Bauchschmerzen schon bei Erstklässlern und schwindende Freude am Lernen wollten wir unseren eigenen Kindern unbedingt ersparen“, sagt die Psychologin Heike Balzer. Sie tauschte sich nach der Geburt ihres Sohns Finn regelmäßig mit befreundeten Müttern darüber aus. Die Unterrichtspraxis an den öffentlichen Schulen der Umgebung kannten die Frauen aus den Erzählungen befreundeter Eltern und weil einige von ihnen bereits schulpflichtige Kinder hatten oder als Lehreinnen arbeiteten. Gemeinsam entwickelten die Mütter die Vision einer Schulalternative auf Rügen. Bereits nach wenigen Monaten trafen sich bis zu zwölf Schulplanerinnen einmal wöchentlich: Aus der Idee entwickelte sich ein Gründungsprojekt.

Belächelte Mütter öffnen Türen

„Es war gut, dass einige von uns noch in der Erziehungszeit waren. Die zeitlichen Freiräume konnten wir nutzen, um über den eigenen Tellerrand zu schauen“, sagte Heike Balzer. Die Frauen hospitierten an verschiedenen Schulen und wälzten Fachliteratur. Auf den Treffen diskutierten sie das Für und Wider pädagogischer Ansätze und entwickelten ein Leitbild – sowie ein erstes Schulprogramm, das von den Pädagoginnen der Gründungsgruppe kontinuierlich weiterbearbeitet wurde. Das Ergebnis war ein Konzept für ganzheitliches, exemplarisches Lernen in jahrgangsübergreifenden Lerngruppen, das die pädagogischen Ansätze von Maria Montessori und Jürgen Reichen kombiniert. Es sollte eine Grundschule mit integriertem Hort und angeschlossener Orientierungsstufe entstehen. 

Bis das Schulkonzept vom Bildungsministerium Mecklenburg-Vorpommerns als innovativ und damit positiv bewertet wurde, musste die Gründungsinitiative Ausdauer beweisen. „Wir wurden anfangs oft nicht ernst genommen“, sagt Anja Heitmüller, Lehrerin und Schulgründerin. Sie erarbeiteten sich daher Sachkenntnisse im Schul- und Verwaltungsrecht: „Wir mussten Gesetzestexte, Verordnungen und Verwaltungsvorschriften durchdringen und prüfen, ob sie für unser Projekt relevant waren. Es folgten unzählige Telefonate und Briefwechsel mit den Behörden.“ 

Letztendlich überzeugten freundliche Beharrlichkeit und wachsender Sachverstand die Entscheidungsträger: „Ein Durchbruch gelang, als die damalige Landrätin Kerstin Kassner unser Projekt unterstützte“, sagt Heike Balzer. Auch ein persönliches, Mut machendes Gespräch mit dem damaligen Bildungsminister Hans-Robert Metelmann war entscheidend und wegweisend. Gleichzeitig war es wichtig, das Vertrauen der Eltern zu gewinnen. Denn wer meldet sein Kind in einer Schule an, die es noch nicht gibt? 

Leer stehende Schule gefunden

Im Landkreis Rügen wurde schließlich die Aufnahme der neuen Schule in den Schulentwicklungsplan befürwortetet. Allerdings hatten Gemeinden mit eigenen Grundschulen kein Interesse an einer Konkurrenz vor Ort. „Nach langer Suche fanden wir in Dreschvitz ein Schulgebäude, das die Gemeinde verkaufen wollte“, sagt Heike Balzer. Aufgrund sinkender Schülerzahlen hatte die Gemeinde den Standort wenige Jahre zuvor aufgegeben und die Dreschvitzer Kinder besuchten Schulen in den Nachbarorten. Das Schulgebäude und die dazugehörende kleine Turnhalle standen leer und befanden sich in einem desolaten Zustand. Die Frauen der Schulinitiative sahen darin eine Chance, ihre Vorstellungen zu verwirklichen, verfügten jedoch anfangs nicht über die notwendigen Mittel zum Erwerb oder zur Sanierung der Gebäude. Die Gemeinde wartete mit dem Verkauf, bis die Initiative die Gebäude mit Fördergeldern der Norddeutschen Stiftung für Umwelt und Entwicklung (NUE) erwerben konnte. Nun stand eine grundlegende Instandsetzung und Renovierung an: Ein Architekt erarbeitete das Konzept für die energetische Sanierung des Schulgebäudes unter ökologischen Gesichtspunkten. „Genauso wie das gesamte Schulprojekt wuchs langsam die Höhe des Finanzvolumens“, sagt Heike Balzer. Rund 400 000 Euro der Kosten für die Sanierung wurden über Mittel der NUE, LEADER+ sowie des Ganztagsschulprogramms des Bundes sichergestellt. Der Rest wurde durch einen Kredit bei der GLS-Bank finanziert. 

Selbst entscheiden

Verantwortlich für alle Aufgaben rund um den Kauf, die Sanierung und den Neubau der Schulgebäude ist der im Oktober 2002 gegründete „Förderverein UmWeltSchule Rügen“. Schulträger und verantwortlich für die Pädagogik und das Schulteam ist der „Verein UmWeltSchule Rügen“, der kurz zuvor gegründet wurde. Die Gründerinnen hatten frühzeitig beschlossen, sich nicht an einen der großen Bildungsträger zu wenden, denn sie wollten selbstständig über Struktur und Inhalte ihrer Schule entscheiden – auch wenn dies bedeutete, den Gründungsprozess alleine bewältigen zu müssen. 

„Das Schulgenehmigungsverfahren war ein Ringen mit dem Bildungsministerium Mecklenburg-Vorpommern“, erinnert sich Anja Heitmüller. Bei einem ersten Beratungstermin zur konzeptionellen Gestaltung der neuen Schule taten sich viele Hürden auf. „Wir mussten Angaben zum Schulprofil und der Klassenbildung machen, Aussagen zum Umgang mit Lehrplänen, Musteranstellungsverträge einreichen, aber auch die Lage des Schulgebäudes sowie Zahl, Art und Größe der Unterrichtsräume benennen sowie Unbedenklichkeitsbescheinigungen der zuständigen Bau- und Gesundheitsbehörde vorweisen und noch vieles mehr.“ Im April 2003 beantragte die Elterninitiative beim Bildungsministerium die Anerkennung ihrer Schule als staatliche Ersatzschule. Mit Erfolg: Im November wurde die Schulgenehmigung erteilt. 

Allerdings übernimmt Mecklenburg-Vorpommern die Kosten für den Schulbetrieb an Ersatzschulen erst nach einer Wartezeit, die ersten beiden Jahre mussten daher eigenfinanziert werden. Dies gelang dem Verein UmWeltSchule Rügen über Zuschüsse sowie einer Matching-Förderung der Software AG-Stiftung. Um eine finanzielle Zuwendung zu erhalten, musste sich der Schulträger aktiv um Spenden bemühen. Jede eingegangene Spende bezuschusste die Stiftung dann zu 100 Prozent.

Guter Rat

Im August 2004 startete die erste Lerngruppe mit 22 Kindern. Heute hat die Freie Schule Rügen rund 130 Schüler und 32 Mitarbeiter: davon 16 Lehrer, die gemeinsam mit ihren sechs Hortkollegen die Schule und den Hort betreuen. Die Schule ist Mitglied im reformpädagogischen Schulverbund „Blick über den Zaun“ und im Bundesverband der Freien Alternativschulen (BFAS). Sie kooperiert mit der Gemeinde Dreschvitz sowie mit einem Kindergarten, der vor einigen Jahren in Dreschvitz gegründet wurde. Die Turnhalle nutzen neben dem Kindergarten auch andere Dreschvitzer, etwa für Yoga- und Tanzkurse. Einige Gebäude sind in den Jahren hinzugekommen und das Schulgelände wurde zu einem Naturerlebnisbereich umgestaltet, dessen öffentliche Nutzung vom Schulträger erwünscht ist.

Im Rückblick haben die Gründerinnen den Eindruck, dass es ihr hartnäckiger Enthusiasmus war, der ihnen den Weg ebnete und aus Sackgassen heraushalf. „Wir haben Hilfe bei anderen Freien Schulen gesucht und gefunden. Aber wir haben auch Misserfolge einstecken müssen. Insgesamt war es ein mühseliger, aber sehr spannender Prozess“, sagt Heike Balzer. Der sich hätte abkürzen lassen: Erst nach der Eröffnung sind die Schulgründerinnen auf den BFAS gestoßen, der Elterninitiativen fachlich unterstützt. „Ich möchte unsere Erfahrungen nicht missen, empfehle anderen Eltern aber, sich beispielsweise beim BFAS beraten zu lassen.“