Vor einem Jahr ging der Waldkindergarten in Sehlen in Betrieb

Sehlen. Wenn der Nachbar mit seinem Hund einen Spaziergang macht, winken die Kinder schon von Weitem. Die Mädchen und Jungen vom Waldkindergarten Sehlen kennen ihn, sie begegnen ihm fast täglich, wenn sie sich von ihren Bauwagen aus in Richtung Wald begeben. Mal kommen auch Leute aus dem Ort und bringen verloren gegangene Handschuhe oder Mützen zurück. „Wir haben eine nette Nachbarschaft, alle sind uns wohlgesonnen“, sagt die Leiterin Silke Ahlers.

Vor einem Jahr wurde das für Rügen einmalige Projekt gestartet, als umgebaute Bauwagen auf die Wiese am Dorfrand gezogen wurden. Das Besondere dabei: In diesem Waldkindergarten werden die Kinder zwischen drei und sieben Jahren unter freiem Himmel im Wald betreut, auch bei Schnee, Minusgraden und Regen. Alle Aktivitäten finden draußen statt, bei jedem Wetter. Nur wenn ein Sturm aufzieht, es gewittert oder der Wald aus Gründen der Sicherheit nicht freigegeben ist, finden sie Unterschlupf in ihren beiden Bauwagen.

Große Augen bei den Kindern, als sie am Dienstag zu ihrem Lieblingsplatz im Wald gehen wollten. Plötzlich blieben die drei Jungs stehen, die den Bollerwagen hinter sich herzogen. Drei große Bäume, die die Stürme „Ylenia“ und „Zeynep“ zu Fall brachten, versperrten ihnen den Weg. Statt über den Waldweg ging die Reise nun direkt durch den Wald. Und der Bollerwagen wurde immer schwerer. Er füllte sich von Meter zu Meter mit kleinen abgebrochenen Ästen von Nadelbäumen, die sie sammelten. „Daraus können wir etwas basteln“, sagte Emil. „Ganz bestimmt sogar“, ist sich Von Mathias Otto Ragnar (v. l.), Carlo und Jonathan (alle 3) haben im Wald bei Sehlen eine Wurzel zum Spielen gefunden. foto:

Mathias Otto die Leiterin sicher. „Wir nutzen alles, was wir auf dem Boden finden. In der Vorweihnachtszeit haben wir zum Beispiel daraus Türkränze angefertigt. Bald heben wir Birkenreisig auf, daraus entstehen Besen.“ Das ist auch eine von wenigen Regeln, die die Mädchen und Jungen beherrschen müssen. Es werden keine Blumen, Blätter und Äste raus- beziehungsweise abgerissen. „Wir müssen auch Sichtkontakt halten und an den Kreuzungen stehen bleiben. Und gut miteinander umgehen“, sagte ein Mädchen in der Morgenrunde. „Das sind auch die einzigen Regeln, ansonsten haben sie viele Freiheiten. Wir bilden oft einen Kreis und besprechen Dinge, die die ganze Gruppe angehen. Etwa, was wir am Tag planen oder was wir essen wollen. Hier geht es vor allem darum, Demokratie zu lernen“, sagt Heike Balzer. Sie gehört zum Trägerverein der Freien Schule Rügen in Dreschvitz, der das Projekt Waldkindergarten mit dem Forstamt Rügen vor einem Jahr gestartet hat. Wie sieht ein ganz normaler Tag im Waldkindergarten aus? „Keiner gleicht dem anderen, jeder Tag steht unter einem anderen Stern“, so die Leiterin. Fest steht nur, dass sich alle draußen bewegen.

Ab 7 Uhr kommen die ersten Mädchen und Jungen an. Nach der Morgenrunde am Lagerfeuer oder im Winter am Kamin im Bauwagen geht es spätestens um 9 Uhr in den Wald. Hier haben sie verschiedene Plätze, die sie abwechselnd besuchen. Die Namen haben die Kinder vergeben: „Kirschbaum“, Sumpfweg“, „Donnerkeilweg“ oder „Weg zur Ruine“. Hier können sie wie Ragnar, Carlo oder Jonathan (alle 3) auf der großen Wurzel eines umgekippten Baumes toben. Oder das Balancieren üben wie der vierjährige Jonah. Toben macht hungrig. Aber dafür müssen sie nicht zurück zu den Bauwagen. Die Kollegin, die die späte Schicht übernimmt, bringt das Essen in den Wald. „Bei sonnigem Wetter verteilen wir die Sitzkissen auch auf der Wiese, dann wird hier gegessen“, so Heike Balzer. Das kleine und große Geschäft wird ebenfalls in der Natur verrichtet.

Die Erzieher haben dafür hauchdünnes recyceltes Toilettenpapier dabei. Naturbelassen ist auch die Vorrichtung an den Bauwagen. Hier steht eine Komposttoilette mit Substrat aus Kokosfasern bereit. „Das ist der schönste Kindergarten, den man sich vorstellen kann“, sagt Silke Ahlers. Viele Jahre war sie Erzieherin und Lehrerin in Karlsruhe. Sie hatte sich in den Norden der Republik verliebt und zog vor einem halben Jahr nach Rügen. Eigentlich wollte sie in Stralsund weiter als Lehrerin arbeiten. „Dann habe ich eine unglaublich freundliche und positive Stellenanzeige gefunden und wollte wissen, was dahinter steckt“, sagt sie und war hin und weg, als sie vom Waldkindergarten erfuhr.

„Was die Kinder jeden Tag im Wald erleben können, ist gigantisch. Auch, dass sie mit so viel Vertrauen alle Projekte mitmachen, die wir ihnen anbieten. Egal, ob es Ausflüge zur Insel Vilm oder zur Schule sind, ob sie Obst sammeln und pressen oder neuerdings auch Reitunterricht in Sehlen nehmen.“ Wie es sich schon zu Beginn des Projektes angedeutet hat, ist das Interesse bei den Eltern für diesen Kindergarten riesig. Es gibt sogar lange Wartelisten, die allerdings nur mit Jungs gefüllt sind. „Im Moment nehmen wir fünf Jungs und fünf Mädchen an. Allerdings wechseln im Sommer drei Mädchen in die Schule. Wir würden uns freuen, wenn wir die gleiche Anzahl an Mädchen bekommen würden, dann ist es wieder ausgeglichen“, sagt Heike Balzer. Bis zu 15 Kinder sollen ab Sommer betreut werden. Von Mathias Otto

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Quelle: 12 OSTSEE−ZEITUNG INSEL RÜGEN Donnerstag, 24. Februar 2022, Beirag von der Redaktion freigegeben.